Wann verjährt ein Arztfehler? Was verlangt man für einen Behandlungsfehler? Was für Fristen gibt es? Wie lange dauert ein Gerichtsverfahren?
Diese Fragen möchte ich in einem Fallbeispiel für eine erfolgreiche Arzthaftungssache beantworten. Dieses Beispiel lehnt sich an einen wirklichen Fall eines Behandlungsfehlers an.
Für eilige Leser sei das Ergebnis vorweggenommen: In der Regel dauert die außergerichtliche Tätigkeit etwa ein Jahr (ohne das Einholen von Gutachten). Und das gerichtliche Verfahren dauert in der Regel etwa zweieinhalb Jahre (mit nur einem Gerichtsgutachten). Lesen Sie selbst, wie das kommt:
Im Sommer des Jahres 2009 leidet ein Patient wiederholt unter Nackenschmerzen.
Im Oktober 2009 geht er zum Arzt. Der fertigt ein Röntgenbild. Der Patient bekommt Massagen verschrieben. Es wird nicht besser.
Im März 2010 stellt der Patient sich schließlich im Krankenhaus vor. Dort stellt man einen Tumor im Halswirbelbereich fest. Der Tumor ummantelt schon einen Halswirbelkörper. Tumor und Halswirbelkörper müssen also entfernt und der Halswirbelkörper künstlich ersetzt werden. Im Krankenhaus meint man: Schon auf dem ersten Röntgenbild sei ein unklarer Befund zu sehen gewesen sei. Den hätte man sofort abklären müssen. Ein Arztfehler?
Der Patient hat eine Rechtsschutzversicherung. Er geht im Mai 2010 zum Patientenanwalt. Der beschafft innerhalb die Krankenunterlagen der Gegenseite, der vor- und nachbehandelnden Ärzte/Krankenhäuser. Nach sechs Wochen sind endlich alle Unterlagen da. In einem Zeitfenster von drei Wochen entwirft der Patientenanwalt ein Anspruchsschreiben. Darin stellt er den Sachverhalt dar, formuliert die Behandlungsfehler-Vorwürfe und fordert den Arzt auf, Schadenersatz zu leisten. Also
– ein Schmerzensgeld zu zahlen von 40.000,00 EUR und
– die Haftung für künftige finanzielle Schäden anzuerkennen.
40.000,00 EUR dafür, dass der Patient angesichts des gewachsenen Tumors nicht nur eine wesentlich schwierigere Operation erdulden musste, sondern auch eine Halsversteifung habe, fortlaufend Kopfschmerzen und Migräne-Attacken und ein erheblich größeres Rezidivrisiko.
Aber der Mandant hat Ergänzungen. Es müssen noch neue Arztberichte beschafft werden. Der Entwurf muss überarbeitet werden.
Ende August ist das Anspruchsschreiben fertig und wird versandt. Der Gegenseite wird eine Frist von sechs Wochen gesetzt, also bis Mitte September 2010.
Mitte September 2010, bei Fristablauf meldet sich die Haftpflichtversicherung des Arztes. Sie übersendet ein eigenes Formular, mit dem der Patient die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden soll. Denn nur so könne sie den Fall bearbeiten. Das Formular wird unterschrieben und der Haftpflichtversicherung zurückgeschickt. Sechs Wochen später passiert: Nichts. Auf telefonische Nachfrage bittet der Sachbearbeiter der Haftpflichtversicherung um Geduld, weil noch keine Stellungnahme des Arztes eingegangen sei.
Ende Februar 2011, also sechs Monate nach Versenden des Anspruchsschreibens und nach mehreren telefonischen Erinnerungen weist die Haftpflichtversicherung die Ansprüche schließlich zurück. Es liege kein Arztfehler vor. Auf dem Röntgenbild sei für sie kein Tumor zu sehen. Selbst wenn ein Arztfehler vorläge, könne der Halswirbelkörper ja schon zum Zeitpunkt des Arztbesuches vom Tumor ummantelt gewesen sein. Folglich sei kein Schaden beweisbar, selbst wenn ein Arztfehler vorläge. Ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle der Ärztekammer lehnt die Haftpflichtversicherung ab. (Das Verfahren ist für den Patienten zwar kostenfrei, die Haftpflichtversicherung müsste aber eine Gebühr und Sachverständigenauslagen bezahlen.)
Im März 2011 beauftragt der Patient seinen Anwalt mit der Klage. Der Patientenanwalt entwirft die Klage, holt von der Rechtsschutzversicherung den Kostenvorschuss ein.
Im Juni 2011, also etwa ein Jahr nach Mandatserteilung, wird die Klage eingereicht.
Die Klage wird dem Arzt zugestellt. Dieser erhält eine Frist von zwei Wochen, seine Verteidigungsbereitschaft anzuzeigen und eine Frist von weiteren vier Wochen, um auf die Klage zu erwidern. Für den Arzt meldet sich eine Anwaltskanzlei, die um eine Fristverlängerung für die Klagerwiderung bittet.
Im September 2011, drei Monate nach dem Einreichen der Klage liegt die Klagerwiderung vor. Die Klägerseite kann darauf erwidern, und die Gegenseite wiederum ihrerseits usw.
Im April 2012 wurde der Sachverhalt „ausgeschrieben“. Das Gericht erlässt also einen Beweisbeschluss. Darin wird ein Gerichtsgutachter bestellt. Diesem stellt das Gericht Fragen zur schriftlichen Beantwortung. Der Patientenanwalt beschafft den verlangten Sachverständigenvorschuss von der Rechtsschutzversicherung des Patienten und zahlt ihn ein.
Im Juni 2012 wird die Gerichtsakte an den Sachverständigen abgegeben.
Im Januar 2013, nach den Weihnachtsferien liegt das Gerichtsgutachten vor. Die Parteien erhalten es zur schriftlichen Stellungnahme binnen sechs Wochen.
Das Gutachten bescheinigt dem Patienten, dass die Röntgenaufnahme nicht nur einen unklaren Befund zeigte und weitere Befunde hätten erhoben werden müssen. Der Sachverständige stellt auch fest, dass die Röntgenaufnahme weit unter dem erwartbaren technischen Standard gefertigt sei. Die Anwaltskanzlei des Arztes bittet um eine Fristverlängerung.
Im April 2013 liegt deren Stellungnahme vor. Man beantragt, die Anhörung des Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens. Das Gericht beraumt also einen Termin zur Anhörung an auf Oktober 2013.
Im Oktober 2013 bestätigt der Sachverständige in seiner Anhörung die Arztfehler nochmals. Auch hätte der Tumor auf einem besseren Röntgenbild zu erkennen gewesen sein müssen und, der Patient hätte sich den künstlichen Halswirbelkörper erspart. Allerdings könne der Sachverständige für die Kopfschmerzen keinen Ursachenzusammenhang zu Tumor oder Operation erkennen.
Im November 2013 verurteilt das Gericht den Arzt deswegen schließlich (etwa 2,5 Jahre nach dem Einreichen der Klage) „nur“ zu einem Schmerzensgeld von 30.000,00 EUR und zum Ersatz künftiger finanzieller Schäden. Mehr Schmerzensgeld halte das Gericht für unangemessen. Die Rechtsschutzversicherung des Patienten muss 25% der Verfahrenskosten (Gerichtskosten, Sachverständigenkosten, Anwaltskosten) tragen, weil der Patient zu 25% seine Klage verloren hat.
Die regelmäßige Verjährung dauert drei Jahre, § 195 BGB. Sie beginnt am Ende des Jahres, in dem der Geschädigte Kenntnis von Schädiger und Schädigung hat. Oder er sich grob fahrlässig dieser (Er-)Kenntnis verschließt, § 199 BGB.
Im Fallbeispiel wurde der Arztfehler zwar im Oktober 2009 gemacht (das Röntgenbild verkannt). Kenntnis von diesem Fehler erhielt der Patient aber erst bei der Weiterbehandlung 2010. Also begann die dreijährige Verjährung erst am 31.12.2010. Und hätte am 31.12.2013 geendet.
Durch die Klage im Juni 2011 wurde die Verjährung aber gehemmt. Hemmung heißt: Für die Dauer des Klageverfahrens läuft die Verjährung nicht weiter.
Im Beispiel wurde kein Gutachten über den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung eingeholt. Eine solche Begutachtung dauert in der Regel weitere sechs bis 12 Monate. Es wurde auch kein Schlichtungsverfahren durchgeführt, das seinerseits meist 12 bis 24 Monate dauert. Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst hemmt die Verjährung nicht. Ein Schlichtungsverfahren hemmt die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB.
Ein Urteil seinerseits ist 30 Jahre lang gültig. (Junge Geschädigte müssen das beachten! Womöglich müssen sie trotz eines obsiegenden Urteils 30 Jahre später wieder an die Gegenseite herantreten und wegen weiter künftiger Ansprüche um einen Verjährungsverzicht der Gegenseite bitten. Oder gar erneut klagen!)
Wie Sie schon in der ausführlichen Schilderung zum Fallbeispiel Arztfehler lesen konnten, kann man allgemein drei Phasen einer Arzthaftungssache unterscheiden:
Erste Phase, Beschaffung von Informationen:
– sämtliche Krankenunterlagen beschaffen,
– Gedächtnisprotokoll anfertigen,
ein Rechtsanwalt KANN helfen.
Zweite Phase, Verhandlungsphase:
– Anspruchsschreiben,
– Nachverhandeln,
ein Rechtsanwalt SOLLTE helfen.
Dritte Phase, gerichtliche Phase:
– Klage,
– gerichtliches Sachverständigengutachten,
– erste Instanz (1-1,5 Jahre?),
– ggf. zweite Instanz (1-1,5 Jahre?),
Rechtsanwalt MUSS helfen (jedenfalls bei Streitwerten > 5.000 EUR herrscht vor deutschen Gerichten „Anwaltszwang“).
Wer eine Rechtsschutzversicherung hat, sollte nicht zögern, zu einen Patientenanwalt zu gehen. Ohne Rechtsschutzversicherung kann man versuchen, den Behandlungsfehler weitestgehend selbst aufzuklären, bevor man einen Anwalt aufsucht. Man kann selbst ein Gedächtnisprotokoll fertigen, sich die Krankenunterlagen beschaffen und ggf. ein – für den Patienten kostenloses – Gutachten über die Krankenversicherung (bzw. deren Medizinischen Dienst – MzD), siehe Behandlungsfehler – was tun?.
Wichtig zu wissen:
Nur das gerichtliche Gutachten liefert einen prozessualen Beweis. Gutachten vom Medizinischen Dienst oder Schlichtungsgutachten helfen zwar bei Verhandlungen, sind aber kein Beweis vor Gericht! Auch (teure) Privatgutachten können bei der Argumentation helfen, erbringen aber keinen gerichtsfesten Beweis.
Dass die Haftpflichtversicherung des Arztes freiwillig alle Ansprüche anerkennt, ist im Schema nicht vorgesehen. Denn das kommt praktisch kaum vor. Im besten Fall einigt man sich auf einen „Abfindungsvergleich„, mit dem auch „Folgeschäden“ abgegolten werden, oder man muss diesen Anspruch bis zuletzt durch Urteil erstreiten.
Wer ein echtes Urteil als Beispiel lesen möchte, für den habe ich ein anonymisiertes Arzthaftungs-Urteil kommentiert.